Forschung
17. September 2024
Warum Seekühe und Delfine ähnliche Ohren haben, obwohl sie nur entfernt verwandt sind
Evolutionsbiolog*innen konnten zeigen, dass ähnliche Fortbewegung und Lebensräume für die Ohrform entscheidender sind als evolutionäre Verwandtschaft
Eine neue Studie zeigt die überraschende Evolution im Innenohr von Säugetieren. Ein internationales Forschungsteam unter der Leitung von Nicole Grunstra von der Universität Wien und Anne Le Maître vom Konrad-Lorenz-Institut (KLI) für Evolutions- und Kognitionsforschung (Klosterneuburg) hat gezeigt, dass Arten der morphologisch sehr vielfältigen Säugetiergruppe namens Afrotheria viel größere Ähnlichkeiten im Innenohr zu evolutionär weit entfernten, aber ökologisch ähnlichen Säugetierarten aufweisen als zu ihren nahen Verwandten. Die Studie wurde kürzlich in der renommierten Fachzeitschrift Nature Communications veröffentlicht.
Prinzipiell lässt sich an der Form des Innenohrs die evolutionäre Abstammung von Tieren ablesen: Eng verwandte Arten haben tendenziell ähnlichere Innenohrformen als entfernt verwandte Arten. Zusätzlich gibt es die Annahme, dass die Unterschiede in der komplexen Form des Innenohrs Anpassungen an unterschiedliche Umgebungen und Fortbewegungsarten sind. In ihrer aktuellen Studie kamen die Evolutionsbiolog*innen zu einem überraschenden Ergebnis: Die Form des Innenohrs ist bei Säugetieren mit vergleichbarem Lebensraum und Fortbewegungsweise ähnlicher als bei direkten Verwandten.
Klärung durch virtuelle 3D-Modelle
Das Team aus Evolutionsbiolog*innen und Paläontolog*innen unter Beteiligung des Naturhistorischen Museums Wien untersuchte die Form des Innenohrs der Afrotheria. Diese Säugergruppe besteht aus evolutionär relativ nahe miteinander verwandten Arten, die sich jedoch in ihrer Anatomie und ihren Lebensräumen stark unterscheiden, darunter Erdferkel, Elefanten, nagetierähnliche Elefantenspitzmäuse und Seekühe. Die Forscher*innen verglichen die Ohrform der Afrotheria mit anderen Säugetieren, die in Anatomie, Ökologie und/oder Fortbewegungsverhalten ähnlich, aber nur sehr entfernt mit ihnen verwandt sind, darunter Ameisenbären, Igel und Delfine. Dazu führte das Team Mikrocomputertomografie an Schädeln aus Museumssammlungen durch, aus denen sie virtuelle 3D-Modelle des Innenohrs rekonstruierten. Anschließend verglichen sie die Form des Innenohrs von Afrotheria und ihren ökologischen Analoga und setzten die Ohrform in Beziehung zu ihrem Lebensraum und ihrer Fortbewegung.
Konvergente Evolution durch ähnlichen Selektionsdruck
„Wir haben festgestellt, dass die Form des Innenohrs zwischen Arten mit vergleichbarem Lebensraum und Fortbewegung ähnlicher ist als zwischen näher verwandten Arten mit unterschiedlicher Ökologie“, erklärt Nicole Grunstra von der Universität Wien, Erstautorin der Studie. So ähnelt die Ohrform von Seekühen weniger der von Elefanten oder Schliefern (nahe verwandten Afrotheria) und mehr der eines nur weitläufig verwandten Delfins – zurückführen lässt sich das auf Anpassungen an den marinen Lebensraum. Die Studie fand ähnliche Ohrformen auch bei anderen entfernt verwandten Arten mit ähnlicher Ökologie oder Ernährungsweise, beispielsweise bei unterirdisch lebenden Arten oder solchen, die in Bäumen leben. „Wir konnten auch zeigen, dass ähnliche Innenohrformen bei sich ökomorphologisch entsprechenden Arten nicht zufällig entstanden sind, sondern als Anpassung an gemeinsame ökologische Nischen oder die Fortbewegung“, interpretiert die Letztautorin Anne Le Maître die Daten. Dies ist ein starkes Indiz für konvergente Evolution, also den Prozess, bei dem ursprünglich unterschiedliche Ohrformen aufgrund eines gemeinsamen Selektionsdrucks unabhängig voneinander ähnliche Formen entwickeln.
Innere Ohrform könnte sich bei Säugetieren leichter verändern als in anderen Wirbeltiergruppen
Die neue Studie steht scheinbar im Widerspruch zu früheren Arbeiten über Vögel, Reptilien und auch einige Säugetiere, die Zweifel daran aufkommen lassen, inwieweit adaptive Prozesse die Variation des Innenohrs bei Wirbeltieren geprägt haben. Eine mögliche Erklärung ist, dass Anpassungsunterschiede in der Innenohrform nur bei ökologisch stark unterschiedlichen Arten gut sichtbar sind, wie im Fall der Afrotheria oder auch vielen anderen Säugetieren. Eine alternative Erklärung könnte in der Struktur des Säugetierohrs zu finden sein.
Innerhalb der Wirbeltiere ist das Säugetierohr besonders komplex. Im Vergleich zu Vögeln, Krokodilen oder Eidechsen hat das Säugetierohr durch die evolutionäre Verkleinerung und Umwandlung der Kieferknochen und ihre anschließende Integration in das Mittelohr mehrere zusätzliche Komponenten erhalten (während diese bei Vögeln und Reptilien Teil des Kiefers geblieben sind). Dank dieser Besonderheit können Säugetiere ein viel breiteres Spektrum an Geräuschen wahrnehmen, insbesondere hohe Töne. Wichtig ist auch, dass dadurch die anatomische, genetische und entwicklungsbiologische Komplexität des Ohrs zunimmt, was der Theorie zufolge die Bandbreite der möglichen Ohrformen vergrößert, die sich entwickeln können. „Eine Zunahme der genetischen und entwicklungsbiologischen Faktoren eines Merkmals gibt der natürlichen Auslese mehr Knöpfe, an denen sie drehen kann, was die Evolution verschiedener Anpassungen erleichtert“, so Philipp Mitteröcker von der Universität Wien, einer der beiden Letztautor*innen. Dies könnte eine wichtige Rolle für die Evolution der groβen morphologischen und ökologischen Vielfalt gespielt haben, die Säugetiere heute aufweisen.
Originalpublikation:
Grunstra, NDS, Hollinetz, F, Bravo Morante, G, Zachos, FE, Pfaff, C, Winkler, V, Mitteroecker, P & Le Maître, A. (2024). Convergent evolution in Afrotheria and non-afrotherians demonstrates high evolvability of the mammalian inner ear. Nature Communications.
DOI: 10.1038/s41467-024-52180-1
Diese Studie wurde vom Österreichischen Wissenschaftsfonds (FWF) finanziert.
Abbildung
Seekühe sind komplett aquatische Afrotheria. Sie sind nur sehr entfernt verwandt mit der einzigen anderen komplett aquatischen Gruppe von Säugetieren, den Walen (incl. Delfine). Seekühe und Wale haben sich vollkommen unabhängig an das Leben im Wasser angepasst, da ihr letzter gemeinsamer Vorfahre an Land lebte. C: Pixabay
Wissenschaftlicher Kontakt
Nicole Grunstra, BA MSc PhD
Department für Evolutionsbiologie
Universität Wien
1030 – Wien, Djerassiplatz 1
+43 1 4277 56714
nicole.grunstra@univie.ac.at
Anne Le Maître, BSc MSc PhD
Department für Evolutionsbiologie
Universität Wien
1030 – Wien, Djerassiplatz 1
+43-1-4277-56710
anne.le.maitre@univie.ac.at
Rückfragehinweis
Theresa Bittermann
Media Relations, Universität Wien
1010 – Wien, Universitätsring 1
+43-1-4277-17541
theresa.bittermann@univie.ac.at