Wissenschaft
7. April 2015
Polnische Geschichte aus der Sicht des „kleinen Mannes“
Die Historikerin Katherine Lebow untersucht in einem Projekt des Wissenschaftsfonds FWF Autobiografien „kleiner Leute“ im Polen der Zwischenkriegszeit. Dabei verleiht sie der Geschichte Osteuropas eine neue Perspektive und dokumentiert ein Stück internationaler Wissenschaftsgeschichte.
In den 1920er Jahren konzipierten polnische SoziologInnen Autobiografie-Wettbewerbe als eine Methode, um persönliche Geschichten und Dokumente von ArbeiterInnen, BäuerInnen, Jugendlichen oder Arbeitslosen zu erhalten. Die besten Texte wurden prämiert. „Die polnische Methode der Sozialforschung“, als die sie bald international bekannt war, übertraf alle Erwartungen der ForscherInnen. Die Wettbewerbe hatten bis in die 1930er Jahre eine lebendige Kultur des autobiografischen Schreibens hervorgebracht, die unterschiedlichste Milieus von bäuerlichen Jugendgruppen bis zu jüdischen Kulturzirkeln umfasste. Mehr noch, die in Sammelbänden veröffentlichten Texte wurden zu Bestsellern, mit Literaturpreisen ausgezeichnet und damit auch in der Öffentlichkeit diskutiert. Die Wurzeln der Methode liegen in der Zusammenarbeit des polnischen Soziologen und Philosophen Florian Znaniecki, der auch in den USA lehrte, mit dem amerikanischen Kollegen William I. Thomas von der University of Chicago. Die beiden Autoren legten von 1918 bis 1920 die Studie „The Polish Peasant in Europe and America“ vor – ein Klassiker der Sozialwissenschaften. ForscherInnen von Columbia und Harvard wandten die „polnische Methode“ in den 1930ern auch in Kreisen von NS-Parteimitgliedern und jüdischen Flüchtlingen aus Deutschland an.
Dynamiken der Sozialforschung
Bereits während des zweiten Weltkriegs und danach wurde dieses humanistische Modell jedoch von einem positivistischen Ansatz abgelöst. Erst in den 1970er und 80er Jahren wurde die qualitative biografische Methode in der Wissenschaft wiederentdeckt. „Allerdings ohne sich daran zu erinnern, dass diese bereits einmal international etabliert war“, erklärt Katherine Lebow. „Interessanterweise ist die ‚polnische Methode‘ in der deutschen wie englischen Wissenschaftsgeschichte so gut wie vergessen“, so die Historikerin. Warum das so ist, untersucht Lebow unter anderem im Rahmen eines Elise-Richter-Programms des Wissenschaftsfonds FWF.
Autobiografisches Schreiben als politische Teilhabe
Neben dem Beitrag zum Aufstieg und Fall der transatlantischen Geschichte der Sozialwissenschaft legt Katherine Lebow ihren Fokus auf den öffentlichen Diskurs, den die Autobiografie-Wettbewerbe hervorbrachten und damit Teil der Geschichte Osteuropas wurden. Basierend auf Originalquellen aus polnischen und amerikanischen Archiven – einschließlich zahlreicher unveröffentlichter Texte – zeichnet Lebow die Verknüpfung von Wissenschaft, Literatur und Autobiografie und ihren Einfluss auf die öffentliche Sphäre der
Zwischenkriegszeit in Polen nach. „Das war einzigartig. Nicht nur die politischen Eliten oder Intellektuellen waren die AkteurInnen, auch das Volk. Sie haben sich durch die Schreibwettbewerbe eine Stimme gegeben und Ausgrenzung sowie soziale Ungerechtigkeit aufgezeigt“, erklärt Lebow.
Instrumentalisierte Erinnerungen
Während in den autobiografischen Texten der Zwischenkriegszeit soziale und ökonomische Themen im Vordergrund standen, waren Zeitzeugenberichte nach dem Zweiten Weltkrieg Anlass für Diskurse über politische Ethik und Menschenrechte. Aber auch während des Krieges lebte die etablierte Kultur des autobiografischen Schreibens in Polen weiter, mit teils neuen Strategien. 1942 etwa sammelte die polnische Exilregierung mehr als zehntausend Dokumente von deportierten Polinnen und Polen, um die stalinistische Maschinerie zu dokumentieren. Ebenso trugen polnische JüdInnen bereits ab 1945 systematisch Zeitzeugenberichte zusammen. „Das war ein osteuropäisches und spezifisch polnisches Phänomen“, so Lebow. „Biografien wurden aber auch in die andere Richtung ‚benutzt'“, erklärt die Forscherin. So wurden Schreibwettbewerbe auch für kommunistische Propagandazwecke im Polen der 1950er Jahre initiiert.
Wichtiger Beitrag zur Geschichte
Wenngleich die Wettbewerbe, durch die Fragen, die gestellt wurden, inhaltlich beeinflusst waren, sieht sie die Historikerin als wichtige Zeugnisse von Intervention und politischer Teilhabe des Volkes. „Darüber hinaus zeigen uns die Berichte auch, was die SoziologInnen damals nicht interessierte, etwa dass sich auch viele Frauen an den Wettbewerben beteiligten oder dass andere Sprachen als das Polnische verwendet wurden“, so Lebow.
Die gebürtige New Yorkerin Katherine Lebow, Ph.D., hat Geschichte an den Universitäten Yale und Columbia studiert. Von 2013 bis 2014 war sie Research Fellow am Wiener Wiesenthal Institut für Holocaust-Studien (VWI). Lebow arbeitet derzeit im Rahmen des Frauenförderprogramms „Elise-Richter“ des Wissenschaftsfonds FWF an einer Monografie über Autobiografien „kleiner Leute“ im Polen der Zwischenkriegszeit. Ihre Studien stützen sich auf autobiografische Texte, Fachliteratur und Briefwechsel von 1918 bis 1950 aus rund einem Dutzend Archiven in Polen und den USA. Die wichtigste Sammlung ist in den Warschauer „Central Archives of Modern Records“ erhalten.
Bild und Text ab Dienstag, 7. April 2015, ab 10.00 Uhr MESZ verfügbar unter: http://www.fwf.ac.at/de/wissenschaft-konkret/projektvorstellungen/2015/pv2015-kw15
Wissenschaftlicher Kontakt: Katherine Lebow, Ph.D. Wiener Wiesenthal Institut für Holocaust-Studien Desider-Friedmann-Platz 1/18
1010 Wien
T +43 / 1 / 890 15 14 – 700
E katherine.lebow@vwi.ac.at W lebow.weebly.com
Der Wissenschaftsfonds FWF: Marc Seumenicht
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Wien, 7. April 2015