Wissenschaft
30. Juni 2014
Polen, Belgier, Europäer? Grenzgebiete & Nationalisierung von Kindern nach den Weltkriegen
Die Nationalisierung von Kindern in europäischen Grenzregionen nach den beiden Weltkriegen wird jetzt eingehend untersucht. Ziel des vom Wissenschaftsfonds FWF unterstützten Projekts ist es zu analysieren, wie Kinder und Jugendliche in annektierten Grenzregionen Europas aufwuchsen und durch Kampagnen zur Nationalisierung zu vollen Mitgliedern einer Nation erzogen werden sollten. Auch die Reaktionen der Betroffenen werden im Rahmen der Studie erfasst und analysiert. Dabei wird sich die Untersuchung insbesondere auf zwei Fallstudien in Belgien und Polen begründen.
Österreicher oder Europäer oder beides? Ein Verbundenheitsgefühl zu politisch- geografischen Einheiten wird bereits in der Jugend durch zahlreiche Identifikationsangebote geweckt. Nationale Zugehörigkeitsgefühle sind dabei speziell in Grenzregionen beweglich – und daher im Fokus von Nationalisierungsbestrebungen. Diese Bestrebungen fußen auf politischen und sozialen Aktivitäten, die Individuen zur Identifizierung und kulturellen Bindung mit dem Nationalstaat bewegen sollen. Welche Formen und welches Ausmaß solche Bestrebungen aber gerade in Zeiten von und Gegenden mit „flexiblen“ Grenzverläufen angenommen haben, war bisher jedoch wenig erforscht. Dem widmet sich nun Dr. Machteld Venken – Elise-Richter-Stipendiatin des Wissenschaftsfonds FWF – vom Institut für Osteuropäische Geschichte der Universität Wien in einer soziologisch-historischen Studie zu europäischen Grenzgebieten in der Zeit nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg.
Grenzen und Kinder im Zentrum
Im Fokus des vor Kurzem gestarteten vierjährigen Projekts stehen dabei zwei Grenzregionen zu Deutschland, Eupen-St. Vith-Malmedy (Belgien) und Ostoberschlesien (Bezirk Lubliniecki, Polen). Gerade hier waren die Bevölkerungen während und nach den beiden Weltkriegen wechselnden Nationalisierungsinteressen und -maßnahmen ausgesetzt. Als besondere Herausforderung vereint das Projekt auch bisher getrennte Bereiche von ost- und westeuropäischer Geschichtsforschung: „Ich habe mir die Frage gestellt, ob trotz unterschiedlicher Staatsformen ähnliche Maßnahmen und Entwicklungen festzumachen sind. Speziell Kinder wurden nach den Weltkriegen als Hoffnungsträger und begehrte Ressource gesehen, als Rückgrat der Nation und bestens dafür geeignet, die Region mit ihren neuen Grenzen zu stabilisieren und homogenisieren. Es ist zu untersuchen, ob die Mobilisierungsmechanismen zur Nationalisierung Ähnlichkeiten aufweisen, egal, ob die Staatsform nun demokratisch, autokratisch oder kommunistisch war“, so Dr. Venken.
Unterschiedlichste Bereiche der Lebensumstände wie Bildung, Organisationen und Familie werden im Zuge des Projekts bearbeitet werden. Dazu dienen ausführliche Analysen von
Sprachgebrauch, Elitenbildung, sozialem Aufstieg, Freizeitgestaltung und Familienleben. Archivmaterialien aus Schulen beider Regionen ermöglichen dabei ein Studium von Nationalisierungsmaßnahmen im Rahmen von Bildungseinrichtungen: „So wurden zum Beispiel durch die Vorgabe der Unterrichtssprache, aber auch durch die Auswahl von Lehrpersonal Steuerungsversuche unternommen. Weiters wurden in beiden Regionen Eliteschulen gegründet, um ausgewählte Jugendliche die Werte des Nationalstaats verkörpern zu lassen“, erläutert Dr. Venken. Auch die Archive von Jugendorganisationen zur Freizeitgestaltung wie jene der Pfadfinder werden im Zuge der Studie wertvolle Einblicke ermöglichen.
Nationalisierung gelungen?
Das Studiendesign ermöglicht dabei auch den Blick darauf, wie erfolgreich Nationalisierungsmaßnahmen gerade in Grenzregionen mit ihren vielfältigen Überlappungen regionaler und ethnischer Identitäten waren und wie diese von der Bevölkerung erlebt wurden. Grundlegend ist die Vereinigung von Top-down- und Bottom-up-Analysemethoden, wie Dr. Venken betont. So kommen neben Literaturstudium und Archivquellen zu Politiken der Nationalisierung auch autobiografische Schriften und Interviews mit Überlebenden zum Einsatz. Dadurch wird ein Blick auf die Lebenswelten der Betroffenen sichtbar, wie Affirmation praktiziert bzw. Distanz zum Ausdruck gebracht wurde. Zur weiteren Vorgangsweise meint Dr. Venken: „Mein Zugang vereint zwei Betrachtungsweisen und ermöglicht es, Nationalisierungsprozesse als Strukturen und soziale Praktiken zu rekonstruieren.“ So erlaubt das Projekt des FWF erstmals eine umfassende wissenschaftliche Analyse von Nationalisierungen, nationaler Identifikation und sozialen Lebenswelten von Kindern, die in annektierten Grenzregionen im 20. Jahrhundert aufgewachsen sind.
Bild und Text ab Montag, 30. Juni 2014, ab 10.00 Uhr MEZ verfügbar unter: http://www.fwf.ac.at/de/wissenschaft-konkret/projektvorstellungen/2014/pv201406/
Wissenschaftlicher Kontakt: Dr. Machteld Venken, MA Universität Wien
Institut für Osteuropäische Geschichte
Spitalgasse 2, Hof 3
1090 Wien
M +43 / 664 / 151 14 70
E machteld.venken@univie.ac.at
Wien, 30. Juni 2014
Der Wissenschaftsfonds FWF: Mag. Stefan Bernhardt
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