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Wissenschaft

13. Juli 2015

Missbrauch in Institutionen und seine Langzeitfolgen

Die „Wiener Heimstudie“, finanziert durch den Wissenschaftsfonds FWF, erhebt erstmals die psychischen Langzeitfolgen von Missbrauch und Gewalt in Institutionen. Anhand von Daten der Stadt Wien arbeiten Psychologinnen und Psychologen gemeinsam mit ehemaligen Heimkindern ungeklärte Fragen eines dunklen Kapitels der Jugendwohlfahrt auf.

Allein im privaten Kontext erfahren rund 20 Prozent der Bevölkerung Missbrauch und Gewalt im Kindesalter. Besonders betroffen von körperlicher, sexueller und emotionaler Gewalt sind jedoch Kinder, die außerhalb der Familie, etwa in Heimen, untergebracht sind. In den vergangenen Jahren haben europaweit zahlreiche Skandale ein erschütterndes Ausmaß von Kindesmissbrauch in Institutionen zutage gebracht. Auch in Österreich wird erst seit einigen Jahren in der Öffentlichkeit die Gewalt wahrgenommen, die Kindern in Einrichtungen der Stadt Wien bis in die 1980er Jahre angetan wurde. Diesem Umstand tragen aktuell Forscherinnen und Forscher der Universität Wien in einer groß angelegten Untersuchung Rechnung und untermauern empirisch, was bislang großteils Theorie blieb: Nämlich die Frage nach der besonderen Dynamik von Missbrauch in Institutionen und ihre langfristigen Auswirkungen auf die Betroffenen. „Empirische Belege für fundamentale Fragen in diesem Bereich der Forschung fehlen, obwohl Pflege- und Heimkinder als besonders gefährdet für Missbrauchsentwicklungen gelten“, sagt Brigitte Lueger-Schuster. Die klinische Psychologin leitet das dreijährige FWF-Forschungsprojekt, das 2014 gestartet ist.

Erstmalig Vergleichsanalysen

Die Stadt Wien ermöglicht den Wiener Forscherinnen und Forschern erstmals Zugang zu derzeit rund 2.000 Dokumentationen und finanziell entschädigten Betroffenen aus Einrichtungen der Wiener Jugendwohlfahrt. Seit 2010 können sich Missbrauchsopfer an die Wiener Opferschutzkommission wenden. Bis heute gehen dort wöchentlich mehrere Dutzend Neuanträge ein. Auch die Studie selbst habe zahlreiche Reaktionen von Missbrauchsopfern ausgelöst, berichtet Lueger-Schuster, die insgesamt von einer extrem hohen Dunkelziffer ausgeht.

Das FWF-Forschungsprojekt, die „Wiener Heimstudie“, basiert auf zwei Schwerpunkten, mit denen die Wissenschafterinnen und Wissenschafter erstmals in dieser Form umfassende Daten erheben. Erstens stellt die Studie die Erfahrungen von betroffenen Personen des institutionellen Missbrauchs in Beziehung zur Normalbevölkerung und Betroffenen im privaten Umfeld. Dabei werden spezifische Aspekte analysiert und verglichen, wie zum Beispiel familiäre Risikofaktoren, die erlebte institutionelle Gewalt und Faktoren, die zur Vorhersage bestimmter Formen des Missbrauchs beitragen können.

Psychotraumatologie und Diagnostik

Die Langzeitfolgen des erlebten Missbrauchs in den Institutionen werden zweitens auf Basis internationaler Diagnose- und Klassifikationssysteme untersucht: Psychische Störungen, insbesondere Trauma-Folgestörungen, Cortisol-Level im Haar als Indikator für Langzeitstress und soziale Aspekte wie Brüche in der Lebensgeschichte werden dabei berücksichtigt. „Derzeit gibt es in der Psychotraumatologie eine riesige Debatte rund um komplexe posttraumatische Belastungsstörungen“, erklärt Lueger-Schuster. „Das Projekt ermöglicht uns, aktuelle WHO-basierte Diagnosesysteme zu hinterfragen und breiter zu betrachten, indem wir untersuchen, was Gewalt und Missbrauch zum Beispiel für die Entwicklung von Aggressivität, von Selbstwertgefühl, von Kontrolle oder Umgang mit Scheitern bedeuten. Damit können wir einen großen Input für die Psychotraumatologie als solche liefern.“

Biografien des Missbrauchs

Bisherige Studien zeigen, dass Personen, die in der Kindheit traumatisierende Erfahrungen gemacht haben, zu 50 bis 60 Prozent auch im Erwachsenenalter unter massiven psychischen Belastungen leiden. „Es ist daher immens wichtig, diese Langzeitfolgen zu verstehen und systematisch zu beschreiben, denn weltweit gibt es exzessiv viele Betroffene, und es ist zu befürchten, dass es weiterhin welche geben wird“, betont die Psychologin. Bislang hat das Team um Lueger-Schuster unter anderem Interviews mit 144 Betroffenen geführt. Davon sind mehr als 50 Prozent Männer im Alter von durchschnittlich 58 Jahren. Rund 20 Prozent haben einen Großteil ihrer Kindheit im Heim verbracht, 85 Prozent kamen vor dem zehnten Lebensjahr in institutionelle Betreuung. Die Mehrheit der von Gewalt und Missbrauch betroffenen Personen hat eine schlechte Ausbildung. Mit der Folge, dass beispielsweise Verarmung, Beziehungsprobleme, ein Leben auf der Straße und Gefängnisaufenthalte die Lebensläufe der Personen kennzeichnen. Jüngere deutsche Studien zeigen, dass das Ausmaß an Missbrauch und Gewalt am gravierendsten im Heim ist. Mit lebenslangen Folgen für die Heimkinder. „Die Anzahl der traumatischen Ereignisse im Erwachsenenleben hat einen deutlichen Zusammenhang mit sexuellem Missbrauch im Heim“, so Lueger-Schuster. Depressionen, Angst oder Substanzmissbrauch wie Alkohol – unter solchen posttraumatischen Belastungen leiden Betroffene auch noch Jahrzehnte nach der erlebten Gewalt. „Wir sind diesen Zusammenhängen nun auf der Spur und schauen uns die langfristigen Folgen an.“

Zur Person
Die klinische Psychologin Brigitte Lueger-Schuster ist Professorin am Institut für Angewandte Psychologie: Gesundheit, Entwicklung und Förderung sowie Vorsitzende der Schiedskommission der Universität Wien. Lueger-Schuster hat unter anderem Studien zu den Spätfolgen, an denen kirchliche Missbrauchsopfer leiden und zuletzt über Heimkinder in Niederösterreich durchgeführt.

Das Projekt „Wiener Heimstudie“ bzw. „Vienna Institutional Abuse Study“ läuft noch bis 2017. Weitere Informationen und Kontaktadressen für Betroffene unter http://heimstudie.univie.ac.at/

Bild und Text ab Montag, 13. Juli 2015, ab 10.00 Uhr MESZ verfügbar unter:
http://scilog.fwf.ac.at

Wissenschaftlicher Kontakt:
Prof. Dr. Brigitte Lueger-Schuster
Universität Wien
Fakultät für Psychologie
Liebiggasse 5
1010 Wien
T +43 / 1 / 4277 – 47201
brigitte.lueger-schuster@univie.ac.at
http://www.univie.ac.at

Der Wissenschaftsfonds FWF:
Marc Seumenicht
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Sensengasse 1
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T +43 / 1 / 505 67 40 – 8111
marc.seumenicht@fwf.ac.at
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