Wissenschaft
13. Dezember 2004
Forschungs-Objekt „Jude“ – Anthropologie im NS-Regime
Wissenschaftliche „Objektivität“ wird auch von zeitgeschichtlichen Rahmenbedingungen geprägt. So lautet ein zentrales Ergebnis einer Forschungsarbeit der Anthropologischen Abteilung des Naturhistorischen Museums Wien. Im Rahmen dieser Arbeit wurden die Schicksale von 440 im September 1939 als Forschungsobjekte missbrauchten Juden dokumentiert und analysiert. Wie dieses Projekt aufzeigt, sollte die damals durchgeführte anthropologische Untersuchung den Nachweis der „rassischen“ Andersartigkeit von Juden belegen. Das vom Wissenschaftsfonds FWF geförderte Projekt trägt mit diesem Ergebnis zu einer kritischen Auseinandersetzung mit der Wissenschaftsgeschichte bei.
Die Vorstellung der „rassischen“ Andersartigkeit der Juden war in der Anthropologie bereits vor der nationalsozialistischen (NS) Herrschaft weit verbreitet. Jedoch erst mit dem Aufkommen des totalitären NS-Regimes wurde diese Vorstellung von der Ideologie der Machthaber gefördert. In einer jetzt abgeschlossenen Arbeit unter der Leitung von Prof. Maria Teschler-Nicola und Prof. Karl Stuhlpfarrer wurde daher die Wechselwirkung zwischen Wissenschaft und NS-Ideologie in Österreich anhand der damaligen Forschungsaktivitäten der Anthropologischen Abteilung des Naturhistorischen Museums Wien untersucht. Dazu wurden unveröffentlichte Archivbestände über die Forschung an inhaftierten Juden aufgearbeitet und analysiert.
„Wissenschaft“ am Menschen
Unter der Mitarbeit von Dr. Margit Berner, Dr. Verena Pawlowsky und Mag. Claudia Spring befasste sich das Projekt schwerpunktmäßig mit dem Schicksal von 440 als staatenlos erklärten männlichen Juden, die im September des Jahres 1939 im Wiener Stadion inhaftiert worden waren. Bekannt war, dass diese in das Konzentrationslager Buchenwald deportiert wurden und zu den ersten Opfern des systematischen Massenmordes des NS-Regimes zählen – nicht jedoch deren Degradierung zu anthropologischen Forschungsobjekten. Denn wie das Projektteam belegt, wurden diese Juden noch im Wiener Stadion im Detail untersucht. Für diese Untersuchung erhob Dr. Josef Wastl, damaliger Leiter der Anthropologischen Abteilung des Naturhistorischen Museums Wien, gemeinsam mit einer achtköpfigen Kommission Daten zu den individuellen Biografien, vermaß Wuchs und Körperbau, nahm Haarproben und erstellte Gesichtsmasken sowie Fotos von vielen der Inhaftierten.
Zwar begannen Dr. Wastl und seine MitarbeiterInnen unmittelbar mit der statistischen Auswertung des umfangreichen Datenmaterials – die Arbeiten abzuschließen und zu veröffentlichen gelang ihnen jedoch nicht mehr.
Wissenschaftliches Sammlungsmaterial
Der Datenbestand blieb dem Naturhistorischen Museum Wien aber bis heute erhalten – und damit auch die Verantwortung, sich mit dieser Vergangenheit auseinander zu setzen. Eine Verantwortung, der sich die ProjektmitarbeiterInnen nun auch noch aus einem ganz anderen Grund als dem kritisch-wissenschaftlichen Interesse stellten: „Diese Menschen wurden zu Forschungsobjekten herabgewürdigt. Mit unserer Arbeit haben wir uns daher auch bemüht, soweit dies möglich ist, ihnen einen Teil ihrer Individualität und damit Würde zurückzugeben“, führt Dr. Margit Berner aus, die gemeinsam mit Mag. Claudia Spring dem Schicksal der Inhaftierten nachgegangen war. Dazu wurden Kontakte mit Überlebenden und hinterbliebenen Familienmitgliedern aufgenommen, und tatsächlich konnten zwei Männer ausfindig gemacht werden, die als 16-jährige noch von Dr. Wastl analysiert wurden. Einer von ihnen lebt wieder in Wien, der zweite kam auf Einladung des Naturhistorischen Museums Wien, der Stadt Wien und des Jewish Welcome Service im Mai 2003 nach Wien auf Besuch (siehe Foto). Zusätzlich wurden 20 hinterbliebene Familienmitglieder kontaktiert, die auf Wunsch über die ihre Angehörigen betreffenden Ergebnisse des Forschungsprojektes informiert wurden. Dazu zählte auch die Übergabe von Kopien der verbliebenen Dokumente und – zumeist letzten – Fotos.
„Es ist nicht nur für die Zeitgeschichte wichtig, dass wir wissen und verstehen, was mit diesen Menschen damals passiert ist“, erklärt Dr. Berner, „auch für die Geschichte und das Selbstverständnis der Anthropologie ist es von Bedeutung zu erkennen, wie politische Strömungen die inhaltliche Ausrichtung einer Wissenschaft prägen.“ Letztlich erscheinen die Ergebnisse dieses FWF-Projektes aber nicht nur für die Anthropologie, sondern für das Selbstverständnis aller Wissenschaften in einer modernen Gesellschaft von Bedeutung.
Wissenschaftlicher Kontakt:
Prof. Maria Teschler-Nicola Anthropologische Abteilung des Naturhistorischen Museums Wien Burgring 7
A-1014 Wien
T +43 / 1 / 521 77-239
E maria.teschler@nhm-wien.ac.at
Wien, 13. Dezember 2004
Der Wissenschaftsfonds FWF: Mag. Stefan Bernhardt Weyringergasse 35
A-1040 Wien
T +43 / 1 / 505 67 40-36 E bernhardt@fwf.ac.at
Aussender:
PR&D – Public Relations for Research & Development Campus Vienna Biocenter 2 A-1030 Wien
T +43 / 1 / 505 70 44
E contact@prd.at