Wissenschaft
16. Dezember 2013
Wann „Was wäre, wenn“ beginnt: Kindliches Verstehen von alternativen Ereignisverläufen
Darüber nachzudenken, wie die Gegenwart wäre, wenn ein Ereignis in der Vergangenheit anders verlaufen wäre, wird in der Fachsprache als „kontrafaktisches Denken“ bezeichnet. In einem vom Wissenschaftsfonds FWF unterstützten Forschungsprojekt wird nun untersucht, wie sich diese Art des Denkens entwickelt und was kontrafaktisches Denken von anderen Arten des Schlussfolgerns unterscheidet. In weiterer Folge soll untersucht werden, in welchem Zusammenhang kontrafaktisches Denken mit Emotionen wie Bedauern und Reue steht und ob es eine zentrale Rolle in der Entwicklung von wissenschaftlichem Denken spielt.
Das Nachdenken darüber, was unter anderen Voraussetzungen hätte passieren können – das „Hättiwari“ – ist für Erwachsene Alltag. Für Kinder ist das nicht so. Sie erlernen diese Fähigkeit erst im Laufe ihrer Entwicklung. Was genau Kinder verstehen müssen, um kontrafaktisch zu denken, steht nun im Zentrum eines vom FWF unterstützten Projekts.
Fall-Vermögen
Bei Erwachsenen läuft das Durchdenken von Alternativen im Allgemeinen nach folgendem Schema ab: „Wir nehmen ein reales Ereignis, zum Beispiel einen Autounfall, und bauen eine Annahme ein, die nicht den Fakten entspricht (kontra-faktisch); wir nehmen zum Beispiel an, was gewesen wäre, wenn wir langsamer gefahren wären. In weiterer Folge verändern wir alle Fakten in der Ereigniskette, die logisch und kausal mit der Annahme übereinstimmen; zum Beispiel, dass wir dann nicht ins Schleudern gekommen wären“, erläutert Projektleiterin Dr. Eva Rafetseder vom Department of Cognition and Development der Universität Salzburg. Die Vorstellung einer solchen minimal veränderten Parallelwelt, in der ein einziger Aspekt dem Verlauf des aktuellen Ereignisses eine andere Wendung geben hätte können, beginnen Kinder erst ab dem 6. Lebensjahr zu verstehen.
Im ersten Teil des Projekts ist eine Reihe von Studien mit insgesamt 280 Kindern geplant. Dabei soll geklärt werden, wie vor allem jüngere Kinder kontrafaktische Fragen, zum Beispiel: „Wenn Susi die Schuhe ausgezogen hätte, wäre der Fußboden dann dreckig oder sauber?“, interpretieren und verstehen. Untersuchungen mit Vergleichsgruppen englischsprachiger Kinder sollen es ermöglichen, sprach- und schultechnische Besonderheiten dieses Denkens zu identifizieren.
Späte Reue
Doch das Projekt geht weit über die Klärung des Zeitpunktes dieser Entwicklung hinaus. In einem weiteren Schritt soll das Aufkommen von Gefühlen, die die Entwicklung des kontrafaktischen Denkvermögens begleiten, untersucht werden. „Im Allgemeinen wird
angenommen, dass kontrafaktische Gedanken zu Emotionen wie Bedauern und Reue führen. Wir können darüber nachdenken, wie viel besser unser Leben jetzt wäre, wenn wir damals die richtige Entscheidung getroffen hätten. Und wir können diese Entscheidung bereuen. Bisherige Studien deuten auf eine sehr frühe Entwicklung von Bedauern und Reue hin; noch bevor sich die Fähigkeit zu kontrafaktischem Denken entwickelt. Wir wollen diesen Widerspruch nun genauer untersuchen“, so Dr. Rafetseder. In welcher Beziehung kontrafaktisches Denken mit Fühlen steht, wird daher in einem zweiten Teil des Projekts mit insgesamt 400 Kindern untersucht. Es wird vermutet, dass Kinder schon sehr früh bedauern, wenn Konsequenzen für sie negativ sind, zum Beispiel, wenn sie weniger bekommen als ein anderes Kind. Dazu ist jedoch kein kontrafaktisches Denken notwendig. Das Vermögen, eigene Entscheidungen zu bedauern („wenn ich das doch anders gemacht hätte“), wird jedoch erst später, ab circa 6 Jahren, vermutet, da als Basis dafür kontrafaktisches Denken angenommen wird. Elektrophysiologische Messungen sollen dabei helfen, das Erleben kontrafaktischer Emotionen zu erheben, da vor allem jüngere Kinder diese oft nur vage verbal ausdrücken können.
Der dritte Teil des Projekts widmet sich der Untersuchung, in welcher Weise kontrafaktisches Denken für wissenschaftliches Denken notwendig ist: „Wissenschaftliches Denken bedeutet, Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge herzustellen. Dabei ist es, ähnlich dem Bilden der minimal veränderten Welt beim kontrafaktischen Denken, notwendig, eine Annahme zu machen („wenn x die Ursache ist“), um dann logisch sowie kausal im Einklang stehende Schlussfolgerungen zu ziehen („dann würden wir y beobachten“)“, so Dr. Rafetseder.
Insgesamt werden in 260 Stunden reiner Testzeit 780 ProbandInnen auf ihre Fähigkeiten des kontrafaktischen Denkens und Fühlens untersucht. Die geplanten zehn Studien des FWF- Projekts werden so Aufschluss über den Entwicklungsablauf dieses zentralen menschlichen Vermögens geben.
Bild und Text ab Montag, 16. Dezember 2013, ab 10.00 Uhr MEZ verfügbar unter: http://www.fwf.ac.at/de/public_relations/press/pv201312-de.html
Wissenschaftlicher Kontakt:
Dr. Eva Rafetseder
Universität Salzburg
Dept. of Cognition & Development Hellbrunner Straße 34
5020 Salzburg
T +43 / 699 / 121 44 192
E eva.rafetseder@sbg.ac.at
Wien, 16. Dezember 2013
Der Wissenschaftsfonds FWF: Mag. Stefan Bernhardt
Haus der Forschung Sensengasse 1
1090 Wien T+43/1/5056740-8111 E stefan.bernhardt@fwf.ac.at W http://www.fwf.ac.at
Redaktion & Aussendung: PR&D – Public Relations für Forschung & Bildung Mariannengasse 8
1090 Wien
T +43 / 1 / 505 70 44 E contact@prd.at
W http://www.prd.at