Wissenschaft
25. September 2017
Vom Spektakel zur Traumabewältigung
Voodoo-Rituale sind mehr als nur Show. Sie erfüllen wichtige soziale und therapeutische Funktionen, wie Yvonne Schaffler mit Unterstützung des Wissenschaftsfonds FWF belegte. Die Kultur- und Sozialanthropologin erforschte Praktiken von Besessenheit in der Karibik.
Voodoo bedeutet Gott oder Geist. – Im dominikanischen Voodoo spricht man von „misterios“. Besessenheit durch derartige Wesen ist die Essenz der Voodoo-Religion. Angeheizt durch Hollywood-Klischees werden damit geheimnisvolle Riten und schaurige Geschichten verbunden. Doch das Konzept, von Geistern besessen zu sein, gibt es in vielen Religionen und Varianten bis heute. Nur der Umgang damit ist unterschiedlich. Während christliche oder muslimische Geistliche besitzergreifende Geister verbannen wollen, geht es im Voodoo um deren Akzeptanz und die Integration in das Leben.
„Viele Voodoo-Zentren erinnern etwa an katholische Kapellen: Zahlreiche Heiligenbilder, Blumen, Kerzen und andere Devotionalien formieren sich zu kleinen Altären. Oft sind diese allerdings in Privaträumen untergebracht“, erzählt Yvonne Schaffler von ihrer Feldforschung in der Dominikanischen Republik. Dort hat die Kultur- und Sozialanthropologin mit einem Hertha-Firnberg-Stipendium, das der Wissenschaftsfonds FWF an Nachwuchswissenschafterinnen vergibt, über mehrere Jahre den Prozess der Sozialisierung von Besessenheit erforscht. Welche Formen und Funktionen Besessenheit hat oder in welchen Lebensphasen sie auftritt, waren Fragen, die Schaffler beschäftigten.
Wichtige soziale Funktionen
Besessenheit ist ein zeitlich begrenzter Trancezustand, während dem Personen fühlen, dass externe Mächte wie Ahnen oder Gottheiten ihre Körper kontrollieren. Das kann bereits im Kindesalter auftreten. Danach können sich die „Besessenen“ oft nicht erinnern, was sie während der Trance (Dissoziation) gesagt oder getan haben. In mehr als 100 gefilmten Episoden hat Schaffler diese Erlebnisse, deren Abläufe und Riten dokumentiert. Zusätzlich hat sie die Lebensgeschichten von 19 Personen erfasst, die entweder als Voodoo-Praktizierende tätig sind oder ungewollt Besessenheit erleben. Die Praktizierenden erfüllen wichtige soziale Funktionen, wie die Anthropologin zeigen konnte. Sie haben als „Heiler“ und „Heilerinnen“ besondere Stellungen inne und bieten in spirituellen Zentren Dienstleistungen wie etwa Beratungssitzungen im Zustand von Besessenheit an. „Diese Position ermöglicht ihnen ein Zugewinn an (ökonomischer) Autonomie, an Status und sozialer Absicherung“, erklärt Schaffler.
Stress und Trauma
Die Gruppe der unfreiwillig Besessen empfindet die tranceartigen Zustände allerdings als Stress, da die Geister sie spontan und gegen ihren Willen kontaktieren. Oft drückt sich ihr Empfinden in desorganisiertem oder aggressivem Verhalten aus. „Ich habe festgestellt, dass davon Betroffene oft leidvolle Erfahrungen hinter sich haben, wie etwa häusliche Gewalt, Verlust von Bezugspersonen oder Diskriminierung“, berichtet die Wissenschafterin. Zudem zeigte sich, dass diese Personen auch zu körperlichen Symptomen wie Schlaflosigkeit oder Kopfschmerzen neigen. Auch traumatische Erfahrungen sind öfters Teil der Biografie der ungewollt Besessenen. Diesem Aspekt, der Verbindung von Besessenheit und Trauma, widmet sich die Forschung erst seit kurzem. Bis dato gibt es dazu vor allem Studien aus Bürgerkriegsgebieten in Afrika, die diesen Zusammenhang sichtbar machen. Schafflers Daten bestätigen diese Ergebnisse und liefern wichtige Erkenntnisse für die Erforschung von Trauma und Dissoziation.
Voodoo als Bewältigungsstrategie
Auch aus therapeutischer Sicht ist der Umgang mit unfreiwillig Besessenen potenziell interessant. So hat Schaffler festgestellt, dass ein feindlich gesinntes soziales Umfeld und Versuche, die „Dämonen“ rituell austreiben zu wollen, Leid und Stress der Betroffenen verstärken. Ein sogenannter Initiationsprozess hingegen kann als Bewältigungsstrategie dienen. Dabei werden wiederholt und unter professioneller Anleitung Zustände von Besessenheit eingeübt. „Dadurch wird zuvor unkontrollierte Trance strukturiert und kontrollierbar“, so Schaffler. Sowohl der individuelle Lebensverlauf als auch das soziale Umfeld prägen also die Wahrnehmung von oft nur schwer oder gar nicht beschreibaren persönlichen Erfahrungen und Verhaltensweisen.
Ähnlich wie in der Therapieform des „Psychodrama“, bei dem die Klientinnen und Klienten in Form einer Art psychodramatischer „Aufführung“ ihr Thema bearbeiten, werden im Voodoo-Kult körperliche Erfahrungen immer wieder durchlebt und dadurch aufgearbeitet. Besessenheit wird vermutlich auch deshalb in Afrika oder der Karibik nicht grundsätzlich als etwas gesehen, das verhindert werden muss. Sie ist vielmehr als Form des Kontakts zu den Geistern erwünscht und eröffnet verbesserte Möglichkeiten des Selbstausdrucks. Voodoo-Rituale konzentrieren sich grundsätzlich auf positive Energien und heilende Kräfte. „Man will mit den Geistern nicht auf schlechtem Fuß stehen“, weiß die Forscherin.
Spirituelle Praktiken im Aufwind
„Viele Rituale sind dementsprechend unterhaltsam, lustig und haben geradezu Party-Charakter“, schildert Yvonne Schaffler. Insbesondere in wirtschaftlich schwierigen Zeiten, wie sie die Dominikanische Republik aktuell erlebt, erfahren spirituelle Praktiken Aufwind. Rituale zur Heilung, zum Schutz oder anderer Anliegen sind denn auch kein Phänomen von Randgruppen. „Viele Praktizierende haben Klienten in New York“, berichtet Schaffler. Auch New Orleans ist beispielsweise ein Hotspot des Voodoo-Kults. Die populären Stoffpuppen gelten der Stadt als Schutzgeister. Die mit Nadeln bestückte Gruselpuppe, die einem Widersacher Schmerzen zufügen soll, ist eher die Ausnahme und vor allem ein Hollywood-Produkt. Es gibt in der Karibik zwar auch eine „schadensmagische“ Ausrichtung. Man spricht dann davon, dass jemand „mit beiden Händen arbeitet“, mit einer die heilt und mit einer die verhext. Diese Praxis wird aber alleine ausgeführt, an Orten fernab der Heimat.
Zur Person
Yvonne Schaffler (http://yvonne-schaffler.eu/) ist Kultur- und Sozialanthropologin mit Fokus auf Medizinanthropologie. Das Hertha-Firnberg-Projekt des FWF „Geistbesessenheit: Modi und Funktion“ (http://pf.fwf.ac.at/en/research-in-practice/project-finder) (2011-2016) führte sie an der Medizinischen Universität Wien (MUW) durch. Neben ihrer Forschertätigkeit lehrt Schaffler an der MUW sowie der Sigmund Freud Privatuniversität in Wien und befindet sich in Ausbildung zur Psychotherapeutin.
Publikationen
Yvonne Schaffler: Treating „wild” spirit possession in the Dominican Republic: Parallels and Differences between Local and Euro-American Therapeutic Approaches, (http://www.agem-ethnomedizin.de/download/Curare_40_3_161-164_Inhalt+Editorial.pdf) in: Curare 40/3, 2017 (in Druck)
Cardeña, Etzel & Yvonne Schaffler: „He who has the spirits must work a lot: A Psycho-Anthropological Account of Spirit Possession in the Dominican Republic”, in: Ethos (submitted).
Yvonne Schaffler, Etzel Cardeña, Sophie Reijman, and Daniela Haluza: Traumatic Experience and Somatoform Dissociation among Spirit Possession Practitioners in the Dominican Republic (https://link.springer.com/article/10.1007/s11013-015-9472-5), in: Culture, Medicine and Psychiatry 40(1) 74-99, 2016
Yvonne Schaffler & Bernd Brabec de Mori: A Multi-Perspective Analysis of Videographic Data on the Performance of Spirit Possession in Dominican Vodou (http://hw.oeaw.ac.at/0xc1aa500e_0x0033cbcf.pdf), in: ÖAW (Ed.) International Forum on Audio-Visual Research. Jahrbuch des Phonogrammarchivs, 6. p. 100-125, 2015 (pdf)
Bild und Text ab Montag, 25. September 2017 ab 9.00 Uhr MEZ verfügbar unter: http://scilog.fwf.ac.at
Wissenschaftlicher Kontakt
Yvonne Schaffler, PhD
Salzachstraße 2/54
1200 Wien
T +43 / 650 / 9782711
E yvonne.schaffler@meduniwien.ac.at
W http://yvonne-schaffler.eu/
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