Wissenschaft
24. Oktober 2016
Die Österreichische Psychologie im Nationalsozialismus
Die Geschichte der akademischen Psychologie nach dem Anschluss Österreichs 1938 und ihre Rolle als dienstbare Disziplin der nationalsozialistischen Politik werden nun erstmals im Rahmen eines Projekts des Wissenschaftsfonds FWF systematisch aufgearbeitet.
„Es ist eine traurige Wahrheit“, so der Psychologe Gerhard Benetka von der Sigmund Freud Privatuniversität Wien, „dass der Nationalsozialismus eine Blütezeit der angewandten Psychologie gewesen ist – und die Geschichte der österreichischen Psychologie nach dem Anschluss 1938 bisher nicht systematisch aufgerollt worden ist.“ Den Grund dafür sieht Benetka vor allem darin, dass die Psychologie sich selbst immer noch als Opfer nationalsozialistischer Wissenschaftspolitik darzustellen versucht. Und das zum Teil auch mit gutem Recht: So wurde die von Karl und Charlotte Bühler begründete Wiener Schule der Psychologie fast vollständig in die Emigration gezwungen. Was dabei in Vergessenheit geriet, ist aber der Umstand, dass außerhalb der Universität die Psychologie in der NS-Zeit zu vielgestaltigen Anwendungen fand. In einem vor kurzem gestarteten Projekt des Wissenschaftsfonds FWF arbeitet Benetka nun diese bisher nur lückenhaft erforschte Phase der Geschichte der österreichischen Psychologie umfassend auf.
Praktische Psychologie
Im Zentrum des Projekts stehen die wechselseitigen Beziehungen zwischen NS-Politik und fachlichen Entwicklungen in der Psychologie. Wie Voruntersuchungen zeigen, stellten Psychologinnen und Psychologen von sich aus ihre Expertise in den Dienst der Rassen- und Kriegspolitik: bei der Offiziersauslese in der Wehrmacht, in der Rüstungsindustrie bei Eignungsprüfungen an kriegsgefangenen Arbeitskräften, im Kontext der Fürsorge- und Gesundheitspolitik bei der Selektion von „aufwandunwürdigen“ Kindern und Jugendlichen. „Das ganze Ausmaß dieses praktischen Einsatzes von psychologischem Wissen ist uns immer noch unbekannt“, sagt Benetka. „Allein bei der Deutschen Wehrmacht waren 1942 rund 450 Psychologen-Stellen eingerichtet. Weil es zu wenige Psychologinnen und Psychologen gab, musste ein Teil dieser Stellen z. B. mit Lehrerinnen und Lehrern besetzt werden.“
Verbrechen gegen die Menschheit
Das Projekt widmet sich vor allem auch der Rolle der Psychologie im Rahmen nationalsozialistischer Verbrechen gegen die Menschheit. Insbesondere ist dabei der Einsatz psychologischer Testverfahren im Kontext der sogenannten Kinder-Euthanasie zu nennen. Überhaupt lässt sich die Verbreitung psychologischer Testverfahren beispielhaft an neuem Archivmaterial untersuchen: So wurde während der Kriegszeit der Bühler-Hetzer-Test – ein diagnostisches Verfahren zur Prüfung des psychischen Entwicklungsniveaus von Kindern vom Säuglings- bis zum Vorschulalter – am Psychologischen Institut der Universität Wien hergestellt und von dort aus vertrieben. Anhand der Rechnungsbücher lassen sich die Einrichtungen bestimmen, die den Test ankauften. Hauptabnehmer war die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt: „Die NSV hat eine Art von Elite-Fürsorge zu organisieren begonnen; Leistungen und Zuwendungen sollten nur denjenigen zugutekommen, die in rassen- bzw. erbbiologischer und eben auch in entwicklungspsychologischer Hinsicht als förderungswürdig eingestuft wurden“, erläutert Benetka.
Psychologische Akteurinnen und Akteure
Die Karriere-Strategien der historischen Akteurinnen und Akteure bilden einen weiteren Forschungsschwerpunkt. Wie in anderen Disziplinen auch, hat es unter den universitären Vertreterinnen und Vertretern der Psychologie eine Vielfalt von politischen Haltungen und Einstellungen gegeben: von überzeugten Nazis über mehr oder weniger sich aktiv politisch äußernde Opportunistinnen und Opportunisten bis hin zu offen als politische Gegner bekannten Professorinnen und Professoren. Interessant ist z. B. der Fall Hubert Rohracher: „Von seinen EEG-Untersuchungen hat sich offenbar die Wehrmacht kriegswichtige Resultate erwartet“, sagt Benetka. „Seine Berufung an die Universität Wien zeigt, dass im ‚totalen Krieg‘ die Aussicht auf militärisch brauchbare Forschungsergebnisse wichtiger war als die ideologische Zuverlässigkeit des Lehrstuhlinhabers.“ Rohracher sollte aufgrund seiner antinazistischen Gesinnung im Spätherbst 1940 in ein Konzentrationslager überstellt werden. Vor dem Zugriff der Gestapo rettete er sich, indem er sich freiwillig zum Frontdienst meldete. Nur knapp zwei Jahre später wurde er zum Vorstand eines der wichtigsten psychologischen Institute im deutschsprachigen Raum ernannt, seine Forschungen wurden staatlich gefördert.
Neue Archivquellen
Für die Aufarbeitung werden erstmals Dokumente der Deutschen Forschungsgemeinschaft, der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt NSV sowie Materialien aus der „National Archives and Records Administration“ in Washington, USA konsultiert. Hintergründe liefern auch Interviews mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen. Die Ergebnisse des FWF-Projekts werden in Buchform sowohl dem Fachpublikum als auch einer breiteren Öffentlichkeit erstmals zugänglich gemacht.
Zur Person
Gerhard Benetka ist Fakultätsleiter für Psychologie an der Sigmund Freud Privatuniversität Wien. Seine Forschungsinteressen sind die Wissenschaftsforschung, wissenschaftstheoretische (insbesondere philosophische) Grundlagen der Psychologie sowie die Rolle der Visualisierung in der Wissenschaft.
Publikationen zum Thema:
Benetka Gerhard: „Entnazifizierung und verhinderte Rückkehr. Zur personellen Situation der akademischen Psychologie in Österreich nach 1945“, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften, 9, (2), S. 188-217, (1998), PDF, http://www.studienverlag.at/data.cfm?vpath=openaccess/oezg-21998-benetka&download=yes
Benetka, Gerhard u. Guttmann, Giselher, Karl Acham (Hg.): „Akademische Psychologie in Österreich. Ein historischer Überblick.“ Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften. Band 3/1: Menschliches Verhalten und gesellschaftliche Institutionen: Einstellung, Sozialverhalten, Verhaltensorientierung. Wien: Passagen Verlag, S. 83-167, (2001), ISBN: 3-85165-404-8
Benetka, Gerhard und Slunecko, Thomas: „Desorientierung und Reorientierung. Zum Werden des Faches Psychologie in Wien“, in: Reflexive Innensichten aus der Universität. Göttingen: Vienna University Press, S. 267-280, (2015), http://www.v-r.de/de/reflexive_innensichten_aus_der_universitaet/t-0/1037526/
Benetka, Gerhard: „‚Im Gefolge der Katastrophe …‘ Psychologie im Nationalsozialismus“, in: Paul Mecheril u. Thomas Teo (Hg.), Psychologie und Rassismus (1997). Reinbek: Rowohlt, S. 42–72.
Benetka, Gerhard und Rudolph, Clarissa.: „‚Selbstverständlich ist vieles damals geschehen …‘ Igor A. Caruso Am Spiegelgrund“, in: Werkblatt. Zeitschrift für Psychoanalyse und Gesellschaftskritik, 25, (60) 2008, S. 5–45.
Bild und Text ab Montag, 24. Oktober 2016, ab 10.00 Uhr MESZ verfügbar unter: http://scilog.fwf.ac.at
Wissenschaftlicher Kontakt:
Prof. Gerhard Benetka
Sigmund Freud Privat Universität Wien
Fakultät für Psychologie
Campus Prater, Freudplatz 1
1020 Wien
T +43 / 1 / 798 40 98 – 517
E gerhard.benetka@sfu.ac.at
W http://www.sfu.ac.at
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Wien, 24. Oktober 2016